Schmetterlinge im Winter

Es ist 6 Uhr morgens und mein Nachbar hört sich wieder eine Diskussions-Sendung im Fernsehen an. In der Zwischenzeit ist mir klar geworden, dass die unliebsame Unterhaltung nicht aus der Wohnung kommt, die gerade renoviert wird. Es sind keine Handwerker, die sich ihre Arbeitszeit mit Fernsehstreitereien versüssen. Der Bewohner der Renovationswohnung wurde vorübergehend in die leere Wohnung unter mir platziert. Dank der wunderbaren Akkustik, die leere Wohnungen so an sich haben, erfreue ich mich jetzt TV Sendungen rund um die Uhr. Ich hatte übrigens keine Ahnung, dass Menschen im Rentenalter so wenig Schlaf brauchen und den Rest Ihrer Lebenszeit an den Fernseher verschenken. Gestern um 15Uhr war kurzzeitig Ruhe. Er war um 15 Uhr mit einem Freund verabredet. Warum ich das weiss? Na Direktlifeübertragung der Telefongespräche dank einzigartiger Akkustik! Vielleicht bringe ich ihm heute ein paar Kopfhörer vorbei.

Gestern habe ich meine erste Räumaktion gestartet. Mit der Liste der zu verschenkenden Sachen müsst ihr Euch aber noch etwas gedulden. Ich bin noch nicht soweit! Gegen Abend war ich dann ziemlich erschlagen und depressiv und habe einem Freund gesimst, der gerade von einem kleinen Grill-Ausflug zurückkam. Ich wäre wohl auch lieber in die Natur gegangen, statt in alten Sachen zu wühlen. "Setz dich doch noch ein bisschen auf den Balkon zum Auftanken" simste er zurück. Ich bin immer gerne auf meinem Balkon gesessen und habe von da aus die grünen Hügel und des nachts die Sterne betrachtet. "Ach, du meinst, ich soll mich unter das Baugerüst setzen?" simste ich zurück.

Wow ja, da fiel mir erst auf, dass wir nun meine grosse Sachen wie Klavier und Riesenspiegel gar nicht mehr aus dem Haus kriegen für eine Weile. Die kamen nämlich beim Einzug mit einem Lift über den Balkon herein. Die Gerüste mit ihren orangenen Sicherheitsnetzen und Eisenstäben wirken nun wie die Gitterstäbe eines Gefängnisses auf mich. Zur Not muss ich wohl ganz ohne Ballast in die Freiheit flattern. Na wunderbar, wir werden sehen, wie DIE das lösen!

Aber ich wollte Euch eigentlich von meinen Schmetterlingen im Winter erzählen und wie sie vergangen November die Veränderung in meinem Leben ankündigten. Das Stichwort Balkon hat in mir die Erinnerung geweckt. Letzten November habe ich nicht schlecht gestaunt, als ein riesengrosser prächtiger Schmetterlling immer wieder vor dem Flügelfenster zum Balkon herumtanzte und offensichtlich zu mir wollte! Was für ein erstaunliches Bild! Nicht nur die Nächte waren bereits bitterkalt und die Tage grau, es gab auch weit und breit keine Blumen mehr. Und da taucht aus heiterem Himmel ein Schmetterlling auf! Das geht doch gar nicht! Gibt es denn Schmetterlinge im Winter? Ich sah es als schönes Zeichen meiner Transformation an. Aber so sehr er auch zu mir wollte, ich liess ihn draussen rumtanzen, denn in meiner Wohnung würde er zwangsläufig sterben. In den nächsten zwei drei Tagen kamen immer wieder Schmetterlinge zu mir. Ich liess schweren Herzens keinen herein. Und ich tat gut daran, denn nachdem ich mich im Internet etwas schlau gemacht hatte, erfuhr ich, dass Schmetterlinge in jüngster Zeit tatsächlich überwintern. Sie suchen sich dazu einen Unterschlupf in Scheunen und an windgeschützten Dachvorsprüngen für ihren Winterschlaf. In einer beheizten Wohnung würden sie aber zwangsläufig vertrocken. Im Winter habe ich dann oft an die Schmetterlinge gedacht. Ob sie wohl am Ende erfroren sind?

Vor zwei Monaten bin ich dann wie fast immer, eiligs aus der Wohnung gerannt, weil ich meinen Zug nicht verpassen wollte. Da war vor meiner Haustüre im Flur am Boden ein sonderbares schwarzes Etwas, was ich für Schmutz hielt und mit meinem Fuss wegschupsen wolle. Da hat es seine Flügel ausgebreitet und wie wild geflattert. Es war ein wunderschöner Schmetterling! Er hatte den Weg zu mir dennoch geschafft, ist wahrscheinlich durch das Dachfenster geflogen und hat im kühlen Estrich überwintert. Aber wurde er zu früh wach? Jetzt ist es doch noch viel zu kalt! Dachte ich mir. Wir haben ihn dann aber doch zum Fenster rausgelassen, mit schlechtem Gewissen allerdings.

Wenige Tage später sah man überall Schmetterlinge über Wiesen flattern! Mein Schmetterling wusste offensichtlich ganz genau, wann es Zeit ist, aufzuwachen! Der Frühling ist da!